Die Illusion der Individualität
Die meisten Menschen sind sich ihres tief verankerten Bedürfnisses nach Konformität nicht einmal bewusst. Sie leben in der Vorstellung, aus freien Stücken zu handeln, ihre Meinungen selbst geformt zu haben, ihre Vorlieben seien Ausdruck eines autonomen Ichs. Sie glauben, unabhängig zu denken – und halten es für Zufall, dass ihre Ansichten zufällig deckungsgleich mit der gesellschaftlichen Mehrheit sind.
Die Übereinstimmung mit dem Konsens wird zur inneren Beweisführung: Wenn alle es denken, kann es ja nicht falsch sein.
Doch was als eigene Überzeugung erscheint, ist oft nichts weiter als internalisierter Gruppencode.
Der letzte Rest individueller Abweichung – das schwache Flackern einer einst autonomen Persönlichkeit – wird kanalisiert in symbolische Oberflächen: Initialen auf dem Koffer, ein Hoodie mit Namen, das Parteiabzeichen, das Band der Studentenverbindung.
In einer Welt, die zur Gleichförmigkeit dressiert, dienen solche Gesten als Placebo der Selbstdefinition.
Selbst im Marketing spiegelt sich dieses paradoxe Bedürfnis: „Anders als alle anderen“ – verkündet im Chor von Millionen, die das exakt gleiche Produkt kaufen.
Was als Individualität durchgeht, ist oft nur Variantenreichtum im Rahmen des Erlaubten.
Echte Abweichung? Selten. Sie stört. Sie provoziert. Sie macht Angst.
Und so leben wir weiter – in der komfortablen Illusion, frei zu sein, während wir uns millimetergenau in die Form giessen, die der Zeitgeist gerade vorgibt.